Familie Herz, Familie Dahl, Christel und die Stolpersteine

Am neunten November versuche ich jedes Jahr, wenn ich zuhause bin, die Stolpersteine der beiden Familien Herz und Dahl in der Innenstadt zu besuchen und zum Glänzen zu bringen. Zur Not auch kurz vor der Arbeit. Auch in diesem Jahr war die Zeit wieder knapp, aber ich wollte die Tradition nicht aufgeben. Also hab ich Scheuermilch, Schwamm und Tuch eingepackt und bin losgezogen.

Als ich gerade dabei war das Messing der Steine von Louis, Sophie, Jenny, Jakob, Emmi, Irene und Fanny Dahl zu polieren, kam eine ältere Dame, beugte sich über mich und die Steine und sagte: „Das wird schön, junger Mann.“ Und dann fing sie an die Namen zu lesen und wir kamen ins Gespräch. 1938 war sie erst 2 Jahre alt, aber da sie seit 60 Jahren hier lebe hätte sie die Familie teilweise gekannt. Zumindest die Überlebenden des Nazi-Terrors, der an diesem Tag vor 84 Jahren mit der Pogromnacht einen grausamen Höhepunkt erlebt hat. Das sei eine schlimme Zeit gewesen damals, sagt sie mir noch, bedankt sich und geht.

Nur um kurz danach zurück zu kommen. „Ich muss nochmal mit Ihnen reden“, sagt sie, mit Tränen in den Augen. Und dann erzählt sie mir davon, wie sie als kleines Kind in Berlin miterleben musste, wie jüdische Kinder in zweier Reihen aus den Häusern eskortiert wurden. Damals habe sie sich immer ein Geschwisterchen gewünscht und sie habe ihre Mama gefragt, ob sie nicht einen der kleinen Jungen mit großen dunklen Augen mit nach Hause nehmen könnten. Nein, das geht nicht, habe ihre Mutter gesagt. „Das Gesicht von diesem Jungen habe ich nie in meinem ganzen Leben vergessen. Ich habe nur sehr lange nicht mehr an ihn gedacht. - Danke!“

Ich war so berührt, dass ich sie fragte, ob ich sie mal besuchen dürfte. „Ja, aber ich habe sehr viel zu tun, junger Mann, da müssen sie schon vorher anrufen.“ Jetzt habe ich Christels Nummer und ich will unbedingt noch einmal mit ihr sprechen. Über diese Zeit. Über das, was sie erlebt hat.

Als Christel gegangen war habe ich mir beim Schrubben die Namen und Daten nochmal ganz genau angesehen. Eigentlich mache ich das jedes Mal – aber diesmal fühlte es sich noch anders, noch intensiver an. Die Tatsache, dass bei Familie Dahl nur vier von acht Personen überlebt haben ist irgendwie unbegreiflich. Jenny war rechtzeitig nach England geflohen, oder Jakob und Emmi mussten nach Theresienstadt, wo sie 1945 befreit wurden und Irene, damals gerade einmal 12 Jahre alt hat das KZ Stutthof in Riga überlebt und wurde dort am 13 März 1945 befreit. Louis, Sophie und Johanna wurden auch nach Riga deportiert und ermordet. Fanny musste Auschwitz erleiden und wurde dort ermordet, am 17. September 1942. Bei Familie Herz wurden alle vier deportiert und ermordet.

Das alles ist nur ein Teil des Horrors, der sich in unserem Land abgespielt hat, und den wir nicht erlebt haben, an den zu denken und erinnern wir aber verpflichtet sind.

Fast sechs Millionen jüdische Menschen wurden ermordet, nur sehr wenige haben überlebt. Bis zu einer halben Million Sinti und Roma – ermordet. Homosexuelle, politische Gegner, osteuropäische Kriegsgefangene wurden eingesperrt und gequält.

Nie wieder!

Maik Meuser