Tanz der Aerosole

Der Morgen begann mit Nebel. Sozusagen den Aerosolen von Wiesen und Feldern. Um 6:30 waren Tara, unser Hund, und ich alleine im Feld unterwegs. Ich musste mich beeilen, um 7:47 ging mein Zug nach Hamburg. Frühstückstisch war gedeckt, Hund versorgt, mehr konnte ich heute nicht tun für meine Familie. Es würde ein anstrengender Tag werden für meine Frau. Das schlechte Gewissen zwickte. Und es zwickte gleich zweimal: denn heute war ja schon Mittwoch. Ich hatte meine Kolumne vergessen. Hatte am Familienwochenende keine Zeit gefunden. Und noch weniger am Montag. Dann da war Homeschooling angesagt. Anstrengend, nicht nur für die Kids. Da ich den Rest der Woche weg sein würde wollte ich wenigstens die ersten beiden Tage übernehmen. Ich hoffe sehr, dass es die schwersten waren. Der Küchentisch, der die beiden letzten Tage, Samstag und Sonntag, noch geprägt war von Gemütlichkeit und Kerzenlicht, von spätem Familienfrühstück und guter Laune, jetzt war er der Ort, an dem ich die beiden Schulkinder überzeugen sollte, dass das Wochenende vorbei ist und die Ferien noch nicht begonnen haben, auch wenn sie zuhause blieben. Und dass wir jetzt lernen müssten. Was genau musste ich erstmal zusammen suchen, gleichzeitig für gute Laune bei der kleinen Kitamaus sorgen, die auch nicht gehen durfte. Am Ende waren es zwei mühsam erkämpfte Stunden Mathe und Deutsch für den Mittleren und drei beim Großen. In der Schule wären sie vier bis sechs Stunden unterrichtet worden. Der Switch vom Präsenzunterricht zum Homeschooling fällt den Schulen schwer. Den Schülern und Eltern so aber noch deutlich mehr. Trotz Logineo und Anton auf Tablet und Laptop – man wird das Gefühl nicht los, dass der Sommer verschlafen wurde. So richtig vorbereitet wirken zumindest die Schulen meiner beiden Söhne nicht. Als ich mir dann vorstelle, dass Homeschooling auch so funktionieren könnte, dass die beiden Söhne nach Frühstück und Zähneputzen per Computer in die Schule reisen und dort Unterricht machen, so wie es meine Frau im Nebenzimmer ja auch macht, bei ihren Konferenzen, da muss ich schon schlucken. Das müsste doch besser laufen hier in Deutschland. Warum funktioniert das nicht?

Darüber denke ich jetzt nach, während die Landschaft an meinem Zug vorbei zieht. Der Nebel ist längst verschwunden. Und der Tag hat mich mit voller Härte erreicht. Das RKI meldet für heute, Mittwoch, 952 Menschen, die in den vergangenen 24 Stunden mit oder an Corona verstorben sind. Fast 1000 Tote. Daran ändert auch die Tatsache nur wenig, dass das Bundesland Sachsen am Vortag nicht alle Zahlen liefern konnte und jetzt nachreichen musste. Heute ist Beginn des zweiten Lockdowns in Deutschland. Und die Zahlen liegen weit über denen der ersten Welle. Es ist ein seltsames Gefühl das zu schreiben, während ich zum ersten Mal seit Monaten wieder durch Deutschland reise. Aber ich muss beruflich nach Hamburg und freue mich auch schon darauf. Und trotzdem ist mir mulmig zu Mute. Trotz Maske und einem ziemlich leeren Zug. Das hier ist das Gegenteil der Bilder aus deutschen Innenstädten der vergangenen zwei Tage.

Im Frühsommer gab es ein paar Berichte über das Präventions-Paradoxon, mit dem die Politik, vor allem die Bundesregierung zu kämpfen hatte. Als ein Ausbrechen der Krise erfolgreich verhindert oder eingedämmt werden konnte wurden die Maßnahmen, die dazu genutzt wurden, in Frage gestellt. Diese Frage stellt sich jetzt nicht mehr. Eigentlich. Das Präventions-Paradoxon war schon vor einigen Wochen abgelöst worden vom Motivations-Paradoxon, wie es der Kollege Nico Fried in der Süddeutschen formuliert hat. Anfang Oktober schrieb er: „Diesmal könnte die Tatsache, dass man mit einem Ausbruchsgeschehen wie im Frühjahr in diesem Herbst besser umzugehen wüsste, schon vorher dazu führen, dass Menschen sich nachlässiger verhalten und das Risiko unterschätzen.“ Recht hatte er. Jetzt haben wir den harten Lockdown. Er kommt spät. Hoffentlich nicht zu spät.

Lachen soll ja helfen. In Krisensituationen. Denn Lachen ist die beste Medizin, heißt es. Und das stimmt wirklich, denn Lachen verbessert die Sauerstoffzufuhr, schüttet Glückshormone aus, mildert Stress, lindert Schmerzen und senkt den Blutdruck, wie Kollegen vom Deutschlandfunk zusammenfassen. Deshalb ein Kalauer zum Schluss dieser Kolumne:

„Und, was schenkt ihr Euch dieses Jahr?“ „Weihnachten.“

 

 

 

Maik Meuser