Die Kinder von Kiew, Irpin, Butscha und Yanis

Heute vor genau einem Jahr war ich auf dem Weg nach Kiew. Abends gegen 22:00 komme ich in Lwiw an und habe nur ein paar Minuten, um mich in dieser wunderschönen Stadt umzusehen. Dann greift die Ausgangssperre und ich muss zurück ins Hotel. Vier Tage später, auf der Heimreise, kann ich mehr sehen und den Puls der Stadt fühlen. Wunderschön. An diesem Abend aber geh ich schnell schlafen, denn am nächsten Morgen wollen wir mit Ende der Ausgangssperre um 5 Uhr los. Nach Kiew. Das Team ist schon vor Ort und baut auf für die Sondersendung zum Jahrestag des Kriegsbeginns. 

Wir fahren mit dem Auto. Mein Kopf ist noch voll vom Krisentraining der letzten Tage und ich schicke, wie gelernt, jede Stunde eine Ortsmarke an das Team und versuche den Überblick zu behalten - wo bin ich, wie weit sind wir. Zwischendrin meldet sich die Luftalarm-App auf meinem Handy. Mark Hamills, die Stimme von Luke Skywalker, versöhnt mich: The Alert is over - may the force be with you. Humor haben sie, die Ukrainer. 

Als wir Kiew näher kommen, seh ich die ersten Zerstörungen, die schon wieder behoben werden. Wir kommen von Westen über die E40, die mit unseren Autobahnen kaum zu vergleichen ist. Sie ähnelt eher einer Bundesstraße. Dafür kann man an jeder kleinen Tankstelle ganz einfach bargeldlos mit dem Handy seinen Kaffee bezahlen. Etwa sieben Stunden später bin ich in einem Kinderheim für Kriegswaisen in Kiew. Auf der braunen Zimmertür klebt ein Bild. Ein roter Fuchs mit geschlossenen Augen, vor ihm ein Zauberhut und darüber steht: Lets start dreaming - lasst uns anfangen zu träumen. Hinter der Tür warten Kinder an einem kleinen Basteltisch auf mich. Ich kann nicht basteln, stattdessen schlage ich den Kindern vor, dass ich etwas zeichne und sie es erraten sollen. Unser Producer Yanis, den ich gerade erst kennen gelernt habe, übersetzt. Es wird lustig. Die Anspannung verfliegt. Meine komische Katze kommt an, mein Luftballongesicht auch. Das Eis ist gebrochen. Mein Herz auch als ich bemerke, dass die aufgeweckte 8-Jährige neben mir nur noch eine Hand hat. Für sie scheint das kein Problem zu sein, sie klemmt sich das Papier unter den verletzten Arm und schnibbelt lachend an ihrer Bastelarbeit herum. 

Später bekomme ich von allen Kindern selbstgemalte Bilder, meistens Fahnen oder Herzen in den Nationalfarben blau-gelb. Alle irgendwie ähnlich. Bis auf ein Bild: Es zeigt zwei Menschen in einem Haus, ein Kind und ein Erwachsener. Links daneben ein Apfelbaum, rechts ein beschützender Soldat. Die Sonne scheint und blau-gelbe Fahnen und Herzen verschönern das Haus. Das Bild strahlt Optimismus aus - ganz anders als die kleine Künstlerin, mit der ich noch ganz kurz sprechen kann. 

Dann geht es für mich und das Team weiter nach Irpin. Ein Vorort, in dem russische Soldaten gewütet haben. Links ragen die verkohlten Gerippe von Hochhäusern in den bewölkten Himmel, rechts blicke ich auf die traurigen Überreste einer Einfamilienhaussiedlung, durch die wir dann laufen. Alles ist kaputt, bombardiert und verbrannt. Wir gehen durch die Reste von Häusern und ich stoße auf einen völlig verrosteten Schlüsselbund - die Reste einer friedlichen Existenz. Als die Russen die Stadt belagerten, mussten viele Bewohner ausharren in ihren Kellern. Sie kamen nicht raus. Ein älterer Mann versorgte hier seinen Nachbarn mit Wasser aus einer Zisterne, berichtet mir Yanis, der schon öfter hier war. Als die russischen Soldaten das bemerkten, erschossen sie ihn. Es ist ein schlimmer Ort, zwischen Ruinen und völlig zerschossenen Resten von Autos. One life, one love steht auf einem blauen Wagen, der übersät ist von Einschusslöchern, die bereits zu rosten begonnen haben.

Als wir dann noch weiter nach Butscha fahren, habe ich das Gefühl, dass meine Aufnahmefähigkeit an ihre Grenzen kommt. In Butscha lagen Menschen auf den Straßen, das kann man jetzt noch auf den Fotos erkennen, die in der kleinen weißen Kirche mit den goldenen Kuppeln ausgestellt sind. Hinter der Kirche liegen Blumen und Stofftiere. Im April 2022 wurden in Butscha 460 tote Ukrainer entdeckt, teilweise verkohlt, teilweise am Straßenrand liegend. Kollegen der New York Times kommen nach einer achtmonatigen Recherche zum Schluss: Das 234. Luftlanderegiment der russischen Armee ist für die Morde verantwortlich. 

Als wir am Abend in unserem Hotel in Kiew ankommen bin ich dankbar für ein kühles ukrainisches Bier und eine Runde mit dem Team als Ablenkung. Als ich später meine Stiefel geöffnet vor das Bett stelle, den Rucksack gepackt mit allen wichtigen Papieren, Wasser und Ersatzunterwäsche, Schußweste und Helm daneben, falle ich aufs Bett und hoffe, dass es in der Nacht keinen Luftalarm geben wird. Ich habe Glück. 

Heute denke ich an diesen Tag vor einem Jahr zurück. Ich hab Yanis geschrieben und gefragt, ob es ihm gut geht und ob er sicher ist, fern der Front. Wir haben seit einem Jahr immer wieder Kontakt und schreiben uns kurze Botschaften. Heute hab ich ihm geschrieben, dass wir uns vor einem Jahr kennengelernt haben und dass dieser Krieg hoffentlich bald zu Ende geht und er mich dann hier besuchen kommt und wir zusammen Tennis spielen. Das wäre schön, schreibt Yannis, er vermisse die Zeit ohne Krieg. Sie verblasse immer mehr. 


Maik Meuser